Beate Sommer
Schriftstellerin


Elizabeth Wetmore,

Wir sind dieser Staub


Sie hofft, dass er jung stirbt.

Der letzte Satz des ersten Absatzes, und schon ist man mittendrin in dieser Geschichte, die man eigentlich nicht lesen möchte:
1976. Odessa, Texas. Die vierzehnjährige Gloria Ramírez wurde brutal vergewaltigt, fast getötet, mitten im Nichts. Mit letzter Kraft schleppt sie sich zu einer Ranch. Mary Whitehead erbarmt sich und verbirgt sie vor dem Täter, bereit, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen, um sich und ihre Tochter, vielleicht sogar das fremde Mädchen zu schützen. Schon krümmt Marys Finger sich am Abzug, doch da trifft die Polizei ein. Nur Sekunden zu früh.

1976. Texas, Ölboom. Eine Männerwelt. Frauenfeindlich und rassistisch. Immerhin, aufgrund von Marys Aussage kommt es zur Gerichtsverhandlung. Doch Recht wird anderswo gesprochen…

Ein Roman wie ein Film, country noir, episch, poetisch; von ungeheurer Wucht (herausragend übersetzt von Eva Bonné) sowohl die mittels lyrisch-lakonischer Sprache erzeugten Bilder, Kopfkino vom Feinsten, als auch die herzzerreißenden Geschichten der Verlierer des Ölbooms. Okay, ein Verlierer. Die anderen sind Verliererinnen, die erst ganz allmählich beginnen aufzubegehren, jede auf ihre Art.

Im Original lautet der Titel des Buches „Valentine“, also „du wirst am Valentinstag beschenkt“ oder „du bist das Geschenk“. Die bittere Ironie, die sich hier hinter dem so harmlos erscheinenden Titel wie auch dem Brauch selbst verbirgt, ist für deutschsprachige Leser vielleicht nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Umso besser: Wir sind dieser Staub. Der Staub, der in den Augenwinkeln kratzt, der zwischen den Zähnen knirscht. Der Staub, den wir schlucken, wenn wir im Dreck liegen. Immer noch. Immer wieder.

Lesen! Aktueller kann ein Roman, der in den Siebzigern spielt, kaum sein. „Your body, my choice“, hörte ich kürzlich völlig entgeistert von einem Vertreter des „starken“ Geschlechts. Fuck you! Natürlich hat die Menschheit aus der Geschichte gelernt – sie hat gelernt, wie man Dinge, die endlich wenigstens halbwegs gut geworden waren, wieder zurückdreht.


Eichborn Verlag


Andreas Pflüger, Ritchie Girl


Wenn ich meine übrigen Empfehlungen so durchsehe, muss ich feststellen, dass mir die Superlative ausgehen. Ausgerechnet jetzt? Mein Bedürfnis, ein Buch zu bejubeln, war, glaube ich, noch nie so riesig, dabei ist mir bewusst, dass meine Worte diesem Werk nicht entfernt gerecht werden können. Versuchen muss ich es trotzdem.

Worum geht es?
Die amerikanische Besatzungsoffizierin Paula Bloom soll in einem Camp der U.S. Army in der Nähe von Frankfurt herausfinden, ob der dort inhaftierte österreichische Jude Johann Kupfer tatsächlich ein Spion war. Wenn es so ist, könnte man ihn gut gebrauchen im sich bereits abzeichnenden Kalten Krieg. Und nicht nur ihn, denn auch Nazi-Täter erhalten ihr Ticket in die Freiheit, wenn sie nur nützlich genug sind.

Schon wieder Nazi-Zeit? Krieg? Haben wir darüber nicht längst alles gelesen, was man so lesen musste, mindestens in der Schule? Haben wir nicht bis zum Überdruss dem wie besessen wieder und wieder ausgestoßenen „damals“ unserer Eltern oder Großeltern gelauscht? Oder dem ebenso eisernen Schweigen? Haben wir nicht vor geraumer Zeit schon beschlossen, dass es nun auch mal gut sein muss mit all den so schwer auszuhaltenden Gräueln, um mehr „Achtsamkeit“ zu wagen?
Einspruch. Es war nicht genug und kann nie genügen angesichts des unfassbaren Aufstiegs einer geschichtsvergessenen Neuen Rechten allenthalben, die so neu gar nicht ist. Es ist an der Zeit aufzustehen, und jenen etwas entgegenzusetzen, die das Narrativ ihrer Eltern oder Großeltern, die „über Nazideutschland wie über ein Land reden, in dem sie niemals gelebt hatten“, ohne zu hinterfragen übernommen haben.

Doch auch diese Prämisse wird dem Roman von Andreas Pflüger nicht entfernt gerecht. Ja, er rüttelt auf und schüttelt durch, ruft in Erinnerung oder klärt auf. Aber als einem wahren Meister der Recherche gelingt es ihm auch, das „tausendjährige Reich“ einzuordnen in die Zeit davor und, vor allem, danach. Ihnen werden reale Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Gesellschaft (wieder)begegnen, die allesamt nichts gewusst und nichts getan haben und nahtlos Karriere machen konnten, von den Profiteuren des Schreckens ganz zu schweigen.

Aber da ist auch die andere Ebene, die literarische, Sätze wie Donnerhall oder poetisches Wispern, da sitzt jedes wohlgewählte Wort und jede Pointe, unterlegt, glauben Sie mir ruhig, von feinem Humor und Wortwitz. Und von den ganz großen Gefühlen, die sich schon durchaus in den Haaren liegen können vor lauter innerem Widerspruch.

Paulas Geschichte wird Sie nicht loslassen: ihre nachvollziehbare Abscheu vor allen und allem Deutschen, ihre manchmal ungerechte Härte, sogar sich selbst gegenüber, ihre verzweifelte Suche nach der Wahrheit ihrer eigenen Geschichte, einerlei wie schmerzhaft sie sein mag, ihr Aufbegehren gegen das zynische Davonkommenlassen.

Also lesen! Weiterempfehlen. Verschenken. Nachhaken! Und noch einmal lesen, geht gar nicht anders. Einen kleinen Rest Hoffnung, dass Literatur doch etwas bewegt, habe ich mir bewahrt. Auch wenn zu befürchten steht, dass all jene, die erreicht werden müssten, sich längst abgewandt haben von aller Vernunft und Menschlichkeit und Empathie. Aber noch sind wir mehr. Und wir sind stärker. Oder?


Suhrkamp Verlag


Sven Stricker,

Sörensen hat Angst, fängt Feuer, am Ende der Welt, sieht Land

Der Film „Sörensen hat Angst“ mit Bjarne Mädel hat mich auf diesen Autor aufmerksam gemacht, und inzwischen habe ich mit größtem Vergnügen alle drei Folgebände um den angststörungsgeplagten Großstadtflüchtling Sörensen gelesen. Der Hauptkommissar ist in die nordfriesische Einöde gezogen, um omnipräsenter Kriminalität zu entkommen, aber, ach, sie scheint ihm gefolgt zu sein, warum sonst sollten sich im beschaulichen, von liebenswert kauzigen Charakteren bewohnten Katenbüll auf einmal Verbrechen ereignen. Sehr zum Missfallen der Bürgermeisterin, die Sörensen lieber heute als morgen loswerden will, damit der Ruf des Städtchens gewahrt bleibt. Und ihrer auch. Sörensen weiß sich zu wehren und klärt sämtliche Untaten auf.

Ich muss schon mal grinsen beim Lesen, höchstens kichern, aber schallend zu lachen, manchmal seitenlang, wurde mir nicht so in die Wiege gelegt. Hier habe ich mich selbst überrascht. Dabei kommen weder bewegende Passagen noch Landschaftliches zu kurz, ach ja, und spannend ist es auch. Die Mischung macht’s eben, und hier ist ein meisterliches Potpourri entstanden.

Alle (und mehr vom Autor!) im Rowohlt Verlag


Michael Maar,

Die Schlange im Wolfspelz: Das Geheimnis großer Literatur

Hier wird seziert. Nein, ausnahmsweise keine Leichen, sondern Stil. Dieses Buch ist ein atemberaubender, witziger und wahnsinnig gebildeter Streifzug durch die (überwiegend) deutschsprachige Literaturgeschichte, mit Mut zur Lücke, klar, dabei so unterhaltsam wie herausfordernd. Zu Ende lesen. Von vorn beginnen. Hoffen auf einen Folgeband. Für alle, die, beruflich oder nicht, sich an Sprache und Stil delektieren. Und für ausnahmslos alle, die schreiben.

Rowohlt Verlag


Claire Lombardo,

Der größte Spaß, den wir je hatten

David und Marilyn Sorenson führen seit mehr als vierzig Jahren eine glückliche Ehe, von den vier erwachsenen Töchtern mit einer Mischung aus Erleichterung und Skepsis betrachtet. Nacheifern kommt nicht infrage. Alle vier schlagen sich mit unterschiedlichen Schicksalen und Lebensträumen herum. Als der, von einer von ihnen zur Adoption freigegebene, 15-Jährige Jonah die Familie stürmt, gerät einiges aus den Fugen. – Hinreißend komisch, zu Tränen rührend, unvergesslich. Familienepos vom Feinsten und der ziemlich größte Spaß, den ich seit Langem hatte.

Erschienen bei DTV


Candice Fox


Lesen Sie eher Kriminalromane als Thriller, dann beginnen Sie mit der Crimson Lake Trilogie.

Detektive Ted Conkaffey wird verdächtigt, eine 13-Jährige vergewaltigt zu haben. Beweise dafür gibt es nicht, trotzdem hält alle Welt ihn für schuldig, und er zieht sich zurück nach Crimson Lake im Norden Australiens. Dort trifft er auf Amanda Pharrell, eine ehemalige Strafgefangene, die noch ein paar Rechnungen offen hat. Zwei Außenseiter, die sich zusammentun und im Fall eines verschwundenen Autors (Crimson Lake), endlich in eigener Sache, aber nicht nur (Redemption Point), und im Fall eines verschwundenen Jungen (Missing Boy) ermitteln. Hart, schnell, spannend. Dabei gut geschrieben und humorvoll. Zwar möchte man Conkaffey nicht nur einen Tritt in den Allerwertesten versetzen, denn er suhlt sich ziemlich ausgiebig in Selbstmitleid, statt das zu tun, was er am besten kann: ermitteln. Aber wenn er die Gänse unter die Dusche scheucht und Neil Diamond auflegt, um ihnen etwas Gutes zu tun, muss man ihm einfach verzeihen.

Bei Gefallen wird es mit der Hades Trilogie (Hades, Eden, Fall) härter, schneller, spannender.

Sydney. Hades ist der Herr des Mülls. Bei ihm kann man nicht nur Altmetall entsorgen, sondern auch Leichen verschwinden lassen. Die Kinder Eden und Eric entkommen ihrem Schicksal, wachsen bei Hades auf und werden später – Polizisten. Edens neuer Partner Frank Bennett weiß ihre Fähigkeiten zu schätzen, doch ihr Bruder Eric wird ihm zunehmen unheimlich. Auch Eden scheint eine ganz eigene Vorstellung von Gerechtigkeit zu haben. Tötet sie Killer, statt sie zu verhaften? Je näher er der Wahrheit kommt, desto drängender die Frage, ob sie auch ihn töten wird. Serienkiller-Thriller, eigentlich so gar nicht meins, aber hier dient Gewalt nicht der Befriedigung von Splatter-Gelüsten sondern als Mittel, um gesellschaftliche Dissonanzen auszuloten. Überzeugend klug gemacht.

Und dann sind noch zwei Standalone-Titel erschienen, die in den USA spielen. In „606“ geht es um einen perfekt organisierten Massenausbruch aus einem Hochsicherheitsgefängnis in Nevada und der anschließenden Jagd auf all die Mörder, Gangster, Psychopathen - und Unschuldigen. „Dark“ handelt von der Suche nach einem vermissten Mädchen, deren einzige Hoffnung im Zusammenhalt einer Mörderin, einer Diebin, einer Gangsterin und einer desillusionierten Polizistin liegt. Beide Romane sind wahre Pageturner, Hochspannung gepaart mit Humor und erschütternder Gesellschaftskritik.

Alle Titel sind im Suhrkamp Verlag erschienen

Sharon Bolton, Böse Lügen

Man merkt Catrin ihre Verstörung kaum noch an. Nur wer sie gut kennt, wüsste, wie es in ihr aussieht. Wenn sie Nähe zuließe. Ihre Arbeit bei der Naturschutzbehörde ist das eine, was sie aufrecht erhält. Das andere ist der Gedanke an Rache. Bald ist es so weit. Bald jährt sich der Tod ihrer beiden Söhne zum dritten Mal. Dann wird Rachel sterben. Rachel, ihre beste Freundin aus Kindertagen.

Falklandinseln, 1994.  Der blutige Krieg zwischen Argentinien und England um die karge Inselgruppe ist seit zwölf Jahren vorbei. Vergessen ist er nicht. Als der kleine Archie verschwindet, mag niemand mehr an Zufall oder Unfall glauben, denn er ist der dritte Junge in nur zwei Jahren. Befindet sich ein Mörder unter den kaum zweitausend Bewohnern, von denen jeder jeden kennt und jeder alles über jeden weiß? Kaum denkbar, doch sahen nicht die ersten beiden Jungen Catrins Söhnen zum Verwechseln ähnlich? Was hat sie zu verbergen? Und was Callum, der Schotte, der nach dem Krieg auf den Falklands geblieben ist? Kann man ihm trauen, wo er doch Catrins Liebhaber war? Mehr noch, kann er sich selbst trauen?

Nein, ein Thriller, wie es auf dem Umschlag heißt, ist dieser Roman nicht, eigentlich nicht mal ein Kriminalroman, und doch handelt es sich um eines der spannendsten Bücher, das ich seit langem gelesen habe. Hier treibt kein perverser Killer sein Unwesen, hier wird nicht gefoltert und nicht gemetzelt – nun gut, mit einer Ausnahme, unvermeidlich und grandios geschildert. Vielmehr führt Sharon Bolton uns das Psychogramm dreier hochgradig traumatisierter Protagonisten vor Augen, unzuverlässige Ich-Erzähler, einer wie der andere, traurig und verzweifelt, dabei lakonisch und mit gelegentlich aufblitzendem, fein dosiertem Humor, und die dramatische Kulisse reflektiert deren Seelenzustand nicht nur, sie spitzt ihn zu.

Überhaupt: Um mich herum, auf dem Wasser, ist der gespiegelte Mond so regungslos und vollkommen, dass er glatt heil und unversehrt vom Himmel gefallen sein könnte. Sätze wie dieser, von leichter Hand eingestreut, nähren in mir die Hoffnung, dass, angesichts der steigenden Flut von simpel gestrickten, oftmals schlecht oder gar nicht lektorierten Texten auf dem Selbstverleger-Markt, und nicht nur dort, die Zeit für gut geschriebene Spannungsromane mit einer gehörigen Portion Tiefgang noch nicht vorüber ist.

Absolut fesselnd (also vielleicht doch ein Thriller?) von der ersten bis zur letzten Seite. Die letzten drei werden Sie gewiss mindestens zweimal lesen, das ging sogar mir so, die ich das Ende früh erahnte und mich dann doch habe in die Irre führen lassen. Unvergesslich!

Manhattan Verlag

 

Stephen Dobyns, Das Fest der Schlangen

Das Leben ist zu kurz für schlechte Bücher! Binsenweisheit, klar, doch mittlerweile gestatte ich mir, die Lektüre abzubrechen, wenn ein Buch mich nicht innerhalb der ersten fünfzig Seiten zu fesseln vermag. Hier habe ich länger durchhalten müssen, hundertfünfzig Seiten etwa, in denen zahllose, (noch) nicht miteinander verwobene Handlungsstränge und wahre Horden an Personal mit verwirrenden Namen mein Gedächtnis mächtig forderten. Beispielsweise tauchen zwei Junior-Ausgaben ihrer Väter auf, aber nur einer der Väter; Woody ist mitnichten der afroamerikanische Polizist (man verzeihe der in Ostfriesland lebenden alternden Autorin, dass sie versucht war, Ebenholz als Eselsbrücke im Hirn zu implementieren), sondern grad der andere; Ähnlichkeiten bei der Namensgebung brauche ich wohl nicht mehr zu erwähnen. Es war so mühsam, den roten Faden zu finden und das Personal, wenn schon nicht auseinanderzuhalten, dann doch wenigstens einigermaßen sicher in gut und böse, vielmehr in halbwegs gut und nicht ganz böse, zu unterteilen, dass mir beinahe entfallen wäre, was Dobyns‘ Bücher so besonders macht: seine Sprache und sein ironischer, dabei keineswegs liebloser Blick auf die Welt. Die Welt?

Brewster, Rhode Island, eine typische amerikanische Kleinstadt, langweilig und öde. Bis ein Baby aus dem Krankenhaus entführt wird und man an seiner statt eine Schlange vorfindet. Ein Mann wird ermordet, sogar skalpiert. Eine Katze wird aufgehängt. Blutrünstige Kojoten streifen durch die Straßen. Ein Mann wird zum Tier. Ein Teufel vergewaltigt junge Mädchen. Ein Hexen- und Satanskult treibt die Bewohner Brewsters an den Rand ihres Realitätssinnes – und darüber hinaus. Und was passiert wirklich im „Ofenpalast“?

Mittendrin im Chaos Hercel, ein gewitzter Zehnjähriger mit einer ganz besonderen Gabe, die er zu verheimlichen sucht. Vor allem vor seinem Stiefvater, den er Mr. Krause nennen muss, dem traut er nicht über den Weg. Wie gefährlich der tatsächlich ist, wird Ihnen den Atem rauben.

War es das Schicksal Hercels, das mich so berührt hat, dass ich nicht aufgegeben habe? Einerlei, es hat sich wahrlich gelohnt einzutauchen in die detailbesessene Schilderung menschlicher Abgründe, die allzu dicht hinter bürgerlich-braven Fassaden lauern. Ein Mikrokosmos tut sich auf, wie er allgemeingültiger kaum geschildert werden kann. Beiläufig streut Dobyns Übersinnliches ein, halbwissenschaftlich begründet, und es ruft mal ein Schaudern, mal ein ungläubiges Kopfschütteln hervor, kann ja gar nicht sein, und richtig, kein Hokuspokus, sondern bitterste Realität – und doch führt er Sie an der Nase herum, ganz am Ende, augenzwinkernd schaut er Ihnen über die Schulter und lacht sich ins Fäustchen.

Dies ist ein Roman, der Sie lange nicht loslassen wird, und Punktabzug gibt es allein für die Mühsal am Anfang und die uninspirierteste Liebesszene, die ich je gelesen habe.

C. Bertelsmann Verlag

   

Nickolas Butler, Shotgun Lovesongs

Shotgun  wedding wird gemeinhin mit Zwangsheirat übersetzt, doch das trifft die Sache nicht. Entscheidend ist die Gender-Frage, denn der Mann ist es, dem vom Vater einer Tochter die Pistole (das Gewehr) auf die Brust gesetzt wird, der Mann, der sein Vergnügen gehabt hat und nun gezwungen wird, eine ehrbare Ehefrau aus der schwangeren Tochter zu machen. Und augenblicklich haben wir archaische Bilder vor Augen, die allesamt Filmen entstammen, Western, in denen die Ehre immer den Preis für die beste Nebendarstellerin erhält. Obgleich wir uns in diesem Roman räumlich wie zeitlich recht weit vom „wilden Westen“ entfernen, gibt es unleugbar Analogien.

Henry und Beth sind seit ihrer Jugend ein Paar und haben ihren Heimatort Little Wing, Wisconsin, nie verlassen. Das Leben auf ihrer Farm ist ein einfaches, hart am Rande des Existenzminimums, aber sie haben einander und zwei wohlgeratene Kinder.

Ronny hingegen ist viel herumgekommen als er noch ein gefeierter Rodeo-Star war.  Eine Hirnblutung mit anschließender Notoperation haben einen anderen Menschen aus ihm gemacht: langsam, kindlich-naiv und hilfsbedürftig.

Kip ist ein erfolgreicher, ja besessener Rohstoffmakler an der Börse in Chicago. Er steht ständig unter Strom, schneller, höher, weiter, führt ein Leben ohne Fokus, bis er Felicia kennenlernt. Er kauft die stillgelegte Futtermühle in Little Wing, wieder ein Großprojekt, aber eins das ihn nach Hause bringt, full circle.

Und dann ist da noch Leland, eigentlich Lee.

„Er war der Beste von uns allen. Er schrieb Lieder über unseren Flecken Erde: die allgegenwärtigen Maisfelder, die bewirtschafteten Wälder, die buckeligen Hügel und die eingekerbten Täler. Die schneidende Kälte, die viel zu kurzen Tage, den Schnee, den Schnee, den Schnee. … Wir kannten jedes Wort von jedem seiner Lieder und manchmal kamen wir sogar selbst darin vor.“

Lees Tourneen führen ihn um die ganze Welt, nach Hause kommt er nur, um sich zu erden, wenn die Rastlosigkeit seines Lebens allzu übermächtig wird. Und zu Kips Hochzeit, ein Ereignis, das seine Schatten vorauswirft.

Alte Gefühle und neue Einsichten verschieben sich, tektonischen Platten gleich, unmerklich zunächst, doch mit ungeahnten Folgen, die schließlich in einem Heartbreak-Finale kulminieren.

Shotgun Lovesongs von Nickolas Butler ist ein Debut  –  aber was für eines. Freundschaft, Heimat, Liebe – Themen, die allzu leicht in unsäglichen Kitsch abgleiten könnten, hier sind sie wunderbar poetisch und herzerwärmend umgesetzt. Dass ein Autor, der gerade mal Mitte dreißig ist, so wehmütig über die Jugendzeit zu schreiben vermag, ist an sich schon bemerkenswert, und wäre einem die Musik geläufig (es gibt, sehr löblich, einen „Soundtrack“ zum Buch im Internet), die das Buch durchzieht wie eine pulsierende Ader, vermeinte man, eine Geschichte aus der eigenen Jugend zu lesen, einerlei, wie lange das her ist. Damals eben. The way we were.

Klett-Cotta

 

S. J. Watson, Ich. darf. nicht. schlafen.

Christine Lucas wacht auf, und alles ist ihr fremd: ihre Umgebung, der Mann neben ihr, sogar ihr eigenes Spiegelbild. Jeden Morgen. Und jeden Morgen lernt sie aufs Neue: Sie befindet sich in ihrem eigenen Zuhause, der Fremde ist ihr Ehemann Ben, und sie ist 47 Jahre alt, nicht Anfang zwanzig, wie sie glaubt. Seit einem Unfall leidet sie unter einer speziellen Form von Amnesie, die dazu führt, dass alles, was sie tagsüber gelernt hat, wieder ausgelöscht wird, sobald sie einschläft. Ben erklärt ihr rührend geduldig wieder und wieder ihr Leben, sogar ein Album hat er eigens für sie angelegt, doch sie weiß, sie wird nie wirklich wissen, wer sie ist oder wer sie war. Und sie wird niemals wieder sein, was sie einmal war.

Ein Anruf verwirrt sie vollends: Dr. Nash behauptet, ihr Arzt zu sein und seit Wochen mit ihr zu arbeiten. Sie führe ein Tagebuch, es sei versteckt in ihrem Schlafzimmerschrank. Ben wisse nichts von alldem, doch sie müsse es unbedingt lesen. Sie schaut in den Schrank. Tatsächlich, da ist ein Tagebuch, und es trägt eindeutig ihre Handschrift. Fieberhaft beginnt sie zu lesen und entdeckt, dass sie sich an mehr und mehr Bruchstücke ihres Lebens erinnert hat. Aber warum sprechen weder Ben noch Dr. Nash darüber? Kann sie ihnen noch trauen?

S. J. Watson hat einen beeindruckenden Erstling vorgelegt, einen Thriller, der kein Blut braucht, keinen perfiden Serienkiller, um Hochspannung zu generieren. Hier brennen Sie darauf, weiterzulesen, schon allein, weil Sie wissen wollen, ob Christine es endlich schaffen wird, die Lücken von Jahrzehnten in nur ein paar Stunden zu schließen, bevor sie wieder einschläft. Oder bevor sie entdeckt wird. Nein, dies ist kein Whodunnit – die Zahl der Verdächtigen ist sehr überschaubar. Sie werden früh wissen, wer der Böse ist. Und doch ist alles ganz anders, als Sie gedacht haben.

Lassen Sie die Geschichte auf sich wirken. Sie hallt nach. Denn sie stellt eine elementare Frage: Was sind wir ohne Erinnerungen? Nichts - die Antwort so naheliegend wie schwindelerregend.

Fischer Verlag



Watt Key, Alabama Moon

Der zehnjährige Moon lebt seit jeher allein mit seinem Vater in den Wäldern Alabamas, fernab von jeglicher Zivilisation. Von ihm hat er gelernt, wie man in der Wildnis überlebt.
Er kann jagen, Fallen stellen, Wild zerlegen; er weiß welche Pflanzen essbar sind und wie man Unterstände baut. Als der Vater stirbt, macht er sich auf den Weg nach Alaska, wo es viele Menschen geben soll, die auf diese Art leben. Natürlich kommt es zu einem "clash of cultures", als Moon aufgegriffen und trotz heftiger Gegenwehr in ein Heim verfrachtet wird. Irrwitzig sein Fluchtplan, doch mit der Hilfe von Kit, dem schwachen Jungen mit dem dünnen Haar, und Hal, dem gröbsten Schläger der Truppe, gelingt er. Hinreißend komisch, wie die auf sie gehetzten Bluthunde des durchgeknallten Polizisten sich ihnen schwanzwedelnd anschließen, wie überhaupt Moon mit seiner naiven Gradlinigkeit (seine Rechte ist nicht zu verachten) dem Polizisten Schnippchen um Schnippchen schlägt. Herzergreifend traurig, wie Kit schwächer und schwächer wird und schließlich stirbt, Moon im Gefängnis landet. Aber ach, es gibt sie noch, die idealistischen Helfer, die dafür sorgen, dass Moon nicht im System steckenbleibt, und so kommt es zum erleichterndsten Happy End der Jugendliteratur. Für alle ab 10: Hier kommt Euer/Ihr Held

Oetinger Verlag


Jodi Picoult, Neunzehn Minuten

Hier ist ein Buch, das Sie nicht lesen wollen. Ein Buch mit einer Botschaft. Tun Sie es trotzdem! Es kommt zurecht, in einer Zeit, da die Verschärfung des Jugendstrafrechts mehr oder weniger differenziert diskutiert wird. Da die Errichtung von sogenannten Boot-Camps (Lesen Sie hierzu auch das gleichnamige Buch von Morton Rhue)erwogen wird. Wollen wir allen Ernstes wegschließen, was wir uns erst im Extremfall die Mühe machen wahrzunehmen? Jodi Picoult sieht hin, sehr genau.
Peter Houghton ist 17 Jahre alt. Er braucht gerade einmal 19 Minuten, um an der Sterling Highschool 10 Menschen zu erschießen und weitere zu verletzen. Nur bei sich selbst zögert er einen Augenblick zu lange und wird festgenommen. Sein Anwalt versucht herauszufinden, was im Einzelnen passiert ist, und warum.

Peter Houghton ist 17 Jahre alt. Er wurde schikaniert, seit er 5 war. Die ganze Zeit. Mit zunehmender Grausamkeit. Von Mitschülern. Vom eigenen Bruder. Er sucht keine Hilfe, weil er weiß, dass das die Situation noch verschlimmern würde. Nur Josie Cormier, Sandkasten-Freundin und Tochter einer Richterin, setzt sich für ihn ein, bis sie eines Tages nicht mehr kann, nicht länger Außenseiterin sein will und sich von ihm abwendet. Sie stirbt nicht bei dem Amoklauf, aber sie kann sich an nichts erinnern ...

Peter Houghton ist 17 Jahre alt. Ein Opfer, das zum Täter wurde. Denken wir zurück: Kindheit ist nicht schön (wehr dich einfach, petzen tut man nicht, etc.), wer von uns hat nicht das Erwachsenenalter herbeigesehnt, weil wir glaubten, dann könne man uns nichts mehr anhaben? Aber Mobbing ist keine Erfindung der Medien und beginnt nicht erst am Arbeitsplatz. Die alltägliche Gewalt findet auch im Straßenverkehr statt oder beim Einkaufen, und das Lästern beim Abendbrot über merkwürdige Nachbarn ist nichts anderes als Ausgrenzung, all dies so alltäglich, dass wir es kaum wahrnehmen, schon gar nicht als Gewalt. Jugendgewalt beginnt nicht mit dem Amoklauf oder dem krankenhausreif geprügelten Rentner. Sie gipfelt darin.

Ein Buch mit einer Botschaft? O ja.

Piper Verlag


Marisha Pessl,

Die alltägliche Physik des Unglücks

Das Buch ist dick (600 Seiten), die Schrift extrem klein. In jedem Absatz findet sich mindestens eine Klammer mit Anmerkungen, und gelegentlich ist der Text auch noch von Zeichnungen unterbrochen. Die Autorin ist jung, sehr jung, und so schön, dass man geneigt sein könnte zu glauben, sie habe es allein aufgrund ihrer ätherischen Ausstrahlung zu einer Veröffentlichung gebracht. Nie wurden Vorurteile eindrucksvoller entkräftet.

Blue van Meer hat seit dem frühen Tod der Mutter nie länger als ein Semester am selben Ort verbracht. Ihre Heimat ist die Straße und ist, vor allem, dort, wo ihr Vater ist. Auf ihren Reisen kreuz und quer durch die Staaten führen die beiden endlose Diskussionen, gespickt mit seitenlangen Zitaten, ein intellektuelles Kräftemessen, dessen Ausgang immer öfter ungewiss ist. Ihr letztes College-Jahr soll Blue nun an einem Ort verbringen dürfen, an einer der besten Schulen des Landes. Doch die versprochene Idylle erweist sich schon bald als trügerisch ...

Bei diesem Roman stimmt einfach alles: Sprache und Sprachwitz, Handlung und Nebenhandlungen (die erst zum Schluss ihre fast wahre Bedeutung entfalten). Stil- und pointensicher geschrieben, intelligente und mitreißende Unterhaltung vom Feinsten. Die Autorin wird mit Donna Tartt verglichen, zu Unrecht, wo "Die geheime Geschichte" ein angestrengtes Konstrukt ist, sprüht dieses Buch Funken.

Fischer Verlag



Elia Barceló, Das Rätsel der Masken

Jahre nach dem Selbstmord des gefeierten Schriftstellers Raúl de la Torre beginnt der Kritiker Ariel Lenormand dessen Biografie zu schreiben. Was eigentlich eine wissenschaftliche Arbeit werden soll, entwickelt sich mehr und mehr zu einem Labyrinth aus Vermutungen, Verdächtigungen und Lügen. Allein Amelia, die erste Frau Raúls, kennt die entscheidende Wahrheit. Aber wird sie sie auch preisgeben? - Ein faszinierendes Vexierspiel wechselnder Perspektiven und Versionen, dessen Sog man sich unmöglich entziehen kann. Eine literarische Spurensuche, die dem Leser stets einen kleinen Schritt Vorsprung gewährt. Und ein glänzend geschriebener Roman über die ganz große Liebe - und ihre Abgründe.

Piper Verlag


Jeanne Birdsall, Die Penderwicks

Was passiert, wenn vier Schwestern mit ihrem Vater und dem Familienhund Hound verreisen? Eine Menge! Rosalind verliebt sich, Skye auch, jedenfalls so ähnlich, Jane schreibt DEN Abenteuerroman und Batty ist meistens unsichtbar, außer wenn sie die Kaninchen des Gärtners streicheln darf. Wenn nun aber die Kaninchen ausreißen, der Sohn der Hausherrin vor der Militär-Akademie bewahrt werden muss, Batty tatsächlich verschwindet und es mit der Liebe doch nicht so richtig klappt, braucht Vater Penderwick seine ganze Weisheit - die er zumeist auf Latein von sich gibt. Eine hinreißende Familiengeschichte, anrührend, komisch, spannend.

Für Menschen ab 11, Carlsen Verlag


Jodi Picoult,

Beim Leben meiner Schwester

Als die dreizehnjährige Anna sich einen Anwalt nimmt, weil sie nicht länger als Organspenderin für ihre leukämiekranke Schwester herhalten will, gerät das ohnehin prekäre Gefüge ihrer Familie ins Wanken. Nein, sagen Sie?, lieber nicht, zu traurig, zu nah dran vielleicht? Ja, dieses Buch ist herzzerreißend traurig, aber ohne je deprimierend zu sein, und ja, Sie werden weinen, aber, man glaubt es kaum, auch lachen. Und Sie werden es nicht aus der Hand legen, denn es ist spannender als jeder Thriller, mit einer völlig unerwarteten Wendung zum Schluss. Bewegend und einfach unvergesslich!

Piper Verlag


Christoph Hein, In seiner frühen Kindheit ein Garten

Wir erinnern uns, wenngleich vage, an den Fall Wolfgang Grams, den Terroristen, der unter nie geklärten Umständen bei einem Schusswechsel ums Leben kam, als er in Kleinen verhaftet werden sollte, an die politischen Folgen, den kurzen Skandal. An die Einstellung des Verfahrens trotz widersprüchlicher Zeugenaussagen kaum mehr, Empörung währt bestenfalls so lange, wie ein Thema in den Medien präsent ist - es sei denn, man ist persönlich betroffen. Mal ehrlich, haben wir uns je gefragt, wie es seinen Eltern, Geschwistern oder Freunden zumute sein muss? Dieser Frage geht Christoph Hein in seinem neuen Roman nach.

Der (fiktive) Vater eines Terroristen, ein ehemaliger Gymnasialdirektor, der sein Leben lang geradezu akribisch an den Werten unserer Gesellschaft festgehalten hat, kann die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Er hat nie verstanden, was seinen Sohn in den Untergrund trieb und nie erfahren, was bei dessen versuchter Verhaftung tatsächlich vorgefallen ist. Er will Antworten, auch dann, wenn sie sein eigenes Verhalten in Frage stellen, und mehr noch, er will Gerechtigkeit. Er, der einen Eid auf die Verfassung geschworen hat, und stets voller Überzeugung dafür eingetreten ist, hält das für selbstverständlich, unser Rechtssystem kann unmöglich auf zweierlei Maß beruhen, und so beschreitet er den gewundenen Weg durch alle Instanzen der Justiz. Die Konsequenz, die er schließlich aus dem Erlebten zieht, überrascht niemanden so sehr, wie ihn selbst. Ein überflüssiges Buch, stand in der FAZ zu lesen. Mitnichten. Ein wichtiges und bewegendes Plädoyer gegen das Vergessen.

Suhrkamp Verlag


Arne Dahl, Tiefer Schmerz

Zugegeben, ich mag skandinavische Krimis nicht. All die traurigen Figuren, die sich mehr schlecht als recht durch ihr armseliges Leben schleppen, gebeutelt vom korrupten System und kaputten Beziehungen, Trost suchend in Alkohol und Drogen oder beidem, und wenn tatsächlich einmal eine Person auftaucht, auf die nichts davon zutrifft, sie womöglich gar dem Mörder entkommt, dann stirbt sie unweigerlich an Krebs. Es ist zum Heulen. Natürlich sind sie nicht alle so extrem, aber die Ausnahmen sind rar und merkwürdig schlecht geschrieben, so, als könne Sprache nur im Zusammenhang mit Tragik gedeihen, selten enthalten die Sätze mehr als fünf Wörter, von denen mindestens drei belanglos sind, und die Figuren agieren so hölzern wie sie sprechen. Es ist zum Davonlaufen. Nun aber habe ich endlich meinen "Alibi-Schweden" gefunden: Arne Dahl. Mit "Tiefer Schmerz" legt er einen Kriminalroman (seinen vierten) vor, der an Spannung kaum zu überbieten und zudem hervorragend geschrieben ist.

Eine bizarre Mordserie (grausam, aber nicht darin schwelgend) lässt die Stockholmer Sonderermittler um Paul Hjelm und Kerstin Holm nach einer Verbindung zwischen den Opfern suchen, die es eigentlich nicht geben kann. Eine temporeiche Jagd durch Europa beginnt, auf den Spuren organisierter Kriminalität und dunklen Kapiteln der Vergangenheit und der überraschenden Verknüpfung von beidem.

Humorvoll (!), beinahe skurril, und dennoch nicht mit fälliger Kritik an unserer globalisierten Welt sparend. Intelligent, ja philosophisch, ohne belehrend zu sein. Und anrührend. Zum Heulen schön!

 Piper Verlag


Ann-Marie MacDonald,

Wohin die Krähen fliegen

Unglücksboten seit jeher, sind es die Krähen, die das im Wind flatternde blaue Kleid entdecken, das tote Mädchen. Ein Bruch, gewiss nur ein Trugbild in der Idylle eines kanadischen Luftwaffenstützpunktes Anfang der sechziger Jahre. Wir sind aufgeklärt, nichts liegt uns ferner, als die Fehler unserer Eltern zu wiederholen, auch haben wir unsere Lektionen in politischer Korrektheit gepaukt, bis sie zu uns zu gehören schienen, wie ein liebgewonnenes Kleidungsstück, das nur noch gelegentlich kratzt, wenn der Weichspüler gleicher Herkunft, gleichen Status versehentlich weggelassen wurde. Und selbst dann wachsen wir über uns selbst hinaus, die Zeit der Unmenschen ist vorbei und nicht vergessen, wir nehmen Anteil, zähneknirschend manchmal, aber wir tun, was getan werden muss, was die Menschlichkeit gebietet.

Wären die Krähen nicht, man wollte an diese bessere Welt glauben, das Es-war-einmal austauschen gegen ein Es-wäre-möglich-gewesen und mit aller Kraft festhalten an dem Wunsch, dass Menschen aus der Geschichte gelernt haben könnten, im Großen wie im Kleinen - die Krähen und die vage Erinnerung an diese Zeit des beginnenden Kalten Krieges, Schlagworte nur noch, die Kuba-Krise und Chruschtschow, der Wettlauf ins All und der Vietnam-Krieg.

Eine verwirrende Zeit für die neunjährige Madeleine McCarthy, deren Vater, nachdem er in Deutschland stationiert war, nun nach Kanada versetzt wird. Wieder einmal ein neues Zuhause, das zu schaffen ihrer Mutter so mühelos gelingt, neue Freunde, die zu gewinnen sie manche Warnung in den Wind schlägt, eine neue Schule. Und Mr. March, der Klassenlehrer, der die Kinder drillt, unter den Pulten Schutz vor Atombomben zu suchen und der die Schülerinnen, die er zu Lernschwachen deklariert, nach dem Unterricht zu Turnübungen dabehält, die die Konzentrationsfähigkeit steigern. Peinlich, aber unaussprechlich. Bis eine von ihnen ermordet wird. Bis der Schwächste dieser vorgeblichen großen Gemeinschaft der Tat verdächtigt wird, der willfährigste Sündenbock.

In diesem Sommer endet Madeleines Kindheit unwiderruflich und nahezu unbemerkt von ihrer zweckoptimistischen Mutter, denk an etwas Schönes, Kind, ihrem Vater, der sich im Dienste der Freiheit in geheime Aktivitäten hat hineinziehen lassen und dafür die Wahrheit opfert. Und wenn Madeleine Jahre später herausfindet, was sich damals wirklich abgespielt hat, wird Ihnen der Atem stocken vor der Ungeheuerlichkeit dieser Tat - und auch vor Bedauern, denn Sie wissen genau, an welcher Stelle und auf welche Weise der Verlauf der Geschichte hätte verhindert werden können.

Ann-Marie MacDonald entwirft ein grandioses Porträt einer Epoche, bewegend und aufwühlend und ja, auch liebevoll, dass wir Menschen nur sind, der Gedanke beuge das Haupt dir, in einer Sprache, die vor Schönheit geradezu überwältigend ist. Eines der besten Bücher seit Jahren, eines, das im Gedächtnis bleibt, wo manches andere im schon zu oft Gelesenen versinkt.

Piper Verlag, zur Zeit leider nur antiquarisch erhältlich